Wir möchten uns auf den inneren Zusammenhang von Daniels Visionen konzentrieren. Das Buch Daniel zeigt uns, wie Gott seinen Propheten schrittweise in die Einzelheiten seines Planes mit Israel und mit der Welt eingeführt hat.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 5
Kapitel 9
Die Erfüllung der Vision
Kapitel 6
Daniels letzte Vision
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Einleitung
Das Buch Daniel nimmt unter den prophetischen Büchern des Alten Testamentes eine Sonderstellung ein, ebenso wie das Buch der Offenbarung unter den Büchern des Neuen Testamentes. Die Offenbarung ist überwiegend im Literaturstil der Apokalyptik oder der apokalyptischen Sprache geschrieben. Dieser Literaturstil wurde nämlich gerade nach der Offenbarung benannt. Er war während einer Zeit von mehreren Hundert Jahren im Altertum des Ostens weit verbreitet, und zwar hauptsächlich während der Zeit zwischen dem Propheten Daniel und dem Apostel Johannes. Das Buch Daniel ist ebenfalls in Teilen durch den apokalyptischen Schreibstil gekennzeichnet, es eröffnet gewissermaßen literaturgeschichtlich den Zeitabschnitt, den die Offenbarung abschließt. Die erstaunlichste Tatsache besteht jedoch darin, dass beide Bücher, welche zeitlich gesehen mehr als 500 Jahre auseinanderliegen, in ihren Visionen teilweise über die gleichen Dinge reden. Man sieht in ihnen die gleichen Tiere.
Eine weitere erstaunliche Parallele besteht zwischen den Biographien der beiden Autoren. Daniel wurde genau wie Johannes uralt. Er wurde genau wie Johannes verfolgt. Er erlebte genau wie Johannes rettende und bewahrende Wunder des Herrn und starb letztlich trotz aller Bedrohungen seines eigenen Lebens eines natürlichen Todes. Er erhielt genau wie Johannes gewaltige Visionen aus der direkten Gegenwart Gottes. Daniel ist im Alten Testament der größte Seher der Zukunft, so wie es Johannes im Neuen Testament ist. Die Bibelkritiker aller Zeiten konnten die Aussagen von Daniel und Johannes nur schwer ertragen und haben deshalb gerade diese beiden biblischen Bücher immer wieder angegriffen und verfälscht. Die Verfälschungen betrafen vor allem die Kapitel 4 bis 19 der Offenbarung und die Kapitel 9 bis 12 des Buches Daniel. Wir möchten daher nun den Versuch unternehmen, das Buch Daniel in besonderer Weise näher zu betrachten.
Wir möchten in dem vorliegenden Text nicht vorrangig die Lebensumstände Daniels behandeln, sondern uns vielmehr auf den inneren Zusammenhang seiner Visionen konzentrieren. Das Buch Daniel ist nämlich hinsichtlich der darin enthaltenen Visionen und Prophetien eine klar fortschreitende Folge von Offenbarungen an den Propheten und somit auch an uns. Es zeigt uns, wie Gott seinen Propheten schrittweise in die Einzelheiten seines Planes mit Israel und mit der Welt eingeführt hat. Daniel hatte in vielerlei Hinsicht dieselben Fragen wie wir. Gott konnte ihm nicht alles auf einmal beantworten, denn sonst wäre der Prophet überfordert gewesen. Über viele Jahre hinweg wurden die Wahrheiten schrittweise geoffenbart. Diese Offenbarung folgt im Buch Daniel in beeindruckender Art und Weise der Kapiteleinteilung, so dass wir auch unsere kleine Abhandlung nach den Kapiteln des Buches strukturieren können. Da wir chronologisch vorgehen möchten, werden wir die Reihenfolge der Kapitel an bestimmten Stellen abändern.
Kapitel 1
Dieses Kapitel erzählt uns von der Gefangennahme des jungen Propheten und seiner Freunde, sowie von dem Beginn des Lebens der vier Freunde am Hof Nebukadnezars von Babylon. Es enthält noch keine Visionen.
Kapitel 2
In Kapitel 2 haben wir zunächst noch keine Vision des Propheten, sondern den Traum Nebukadnezars in seinem zweiten Regierungsjahr. Er sieht die Abfolge der heidnischen Mächte in Form einer gewaltigen Statue. Auf dem Höhepunkt der heidnischen Weltmacht wird die Statue des Heidentums von einem einfachen Stein getroffen. Das Bild stürzt ein, es wird zu Staub der Sommertennen und kann nicht mehr gefunden oder gar wiederhergestellt werden. Der Stein nimmt die ganze Erde ein. So ist es geschehen. Der einfache Stein steht im Gegensatz zu den kostbaren Materialien der Statue und ist doch mächtiger als die gesamte Statue. Von der Herrlichkeit der alten Weltreiche redet heute kaum noch jemand, aber das Reich Gottes, das Christentum, ist weltweit bekannt. Die Statue repräsentiert nicht allein das römische Weltreich, denn sie ist weit mehr als Rom. Sie wurde zwar „in den Tagen jener Könige“ (also der römischen Kaiser) vom Stein des Christentums getroffen, aber als Ganzes repräsentiert sie die Gesamtheit der heidnischen Weltsysteme. Daniel sieht auf sein Gebet hin die Vision des Königs, welche dadurch auch seine eigene Vision wird. Er deutet den Traum und hat von diesem Tag an das gleiche Wissen wie der König: Nach vier Reichen, welche untergehen werden, wird ein fünftes kommen, welches die ganze Erde einnimmt. Vom Christentum wissen beide natürlich noch nichts.
Kapitel 3
Hier sehen wir den Versuch Nebukadnezars, in seinem Hochmut die Statue zu erbauen, von der er geträumt hat. Er will die Anbetung seiner eigenen Person im Bild der Statue erzwingen, denn Daniel hat ihm in Kapitel 2 mitgeteilt, dass Gott ihm, dem König, alle Macht gegeben hat. Daniels Freunde verweigern jedoch die Anbetung des Bildnisses. Nebukadnezar will die drei Freunde Daniels verbrennen, und er muss lernen, dass der Gott des Himmels auch im Reich Nebukadnezars von Babylon die Schutzgewalt über seine eigenen Gläubigen ausübt. Die drei Freunde Daniels überleben durch ein Wunder Gottes den Feuerofen. Das Volk Gottes steht über der Herrschaftsgewalt Nebukadnezars. Das Reich des Steines aus Kapitel 2 steht über dem Reich Babylons. Dieses Reich, welches das ewige Reich des Herrn Jesus ist, steht auch heute noch über allen Weltreichen der Menschen. Obwohl auch die Christen in das Feuer der Versuchung oder sogar auf den Scheiterhaufen geraten können, sind sie dennoch in Ewigkeit siegreich, und sei es auch durch den Tod hindurch.
Kapitel 4
In Kapitel 4 hat Nebukadnezar den Traum von dem Baum und dem Tier. Daniel deutet ihm den Traum, und es kommt genauso wie der Prophet es gesagt hat. Nebukadnezar wird für sieben Jahre wahnsinnig und frisst Gras wie ein Tier. Als er wiederhergestellt wird, hat er gelernt, dass der Gott Daniels auch über sein eigenes, Nebukadnezars, Leben nach freiem Willen ungehindert bestimmen kann. Auch der große Nebukadnezar regiert nur unter der persönlichen Gnade Gottes, dem er auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Gott ist nicht nur der Herr über das Leben der Gläubigen zu allen Zeiten bis in die Gegenwart hinein, sondern auch über das Leben der Herrscher und aller anderen Menschen dieser Welt. Die Offenbarung im Neuen Testament gibt uns dieselbe Botschaft: Der Himmel regiert.
Zum richtigen Verständnis der zeitlichen Reihenfolge der Visionen, so wie sie der Prophet Daniel bekommen hat, müssen wir nun einen Sprung in das siebte Kapitel machen.
Kapitel 7
In Kapitel 7 findet sich eine Vision aus dem ersten Jahr Belsazars. Als Daniel später in Kapitel 5 dem König Belsazar in dessen letzter Nacht gegenüber steht, weiß er um all diese Dinge. Der König Nebukadnezar sah vor Jahrzehnten die Weltreiche in rein äußerlicher Perspektive als eine prächtige Statue aus edlen Materialien, welche von einem einfachen Stein zu Fall gebracht wurde. Jahrzehnte des Wartens, des treuen und gläubigen Dienstes am Hof Babylons sind inzwischen ohne besonders auffällige Ereignisse vergangen! Jetzt endlich zeigt Gott seinem alten Propheten dieselben Reiche in ihrer geistlichen Qualität als das, was sie wirklich sind: Tiere, von denen das letzte das schlimmste ist. Nach der Herrschaft der Tiere kommt der Sohn des Menschen, der hier zu den Tieren im gleichen Gegensatz steht wie der Stein in Nebukadnezars Traum zu den Materialien der Statue. Daniel erfährt, auf welche Weise der Stein aus Kapitel 2 die Statue zerstört. Es wird nämlich so sein, dass die irdischen und zeitlichen Reiche der Nationen durch ein ewiges und himmlisches Reich ersetzt werden, welches im Himmel von Gott in die Hand des Sohnes des Menschen gegeben wird.
Wie viele Fragen sich Daniel darüber wohl gestellt haben wird? Er bekam seine Antworten von dem Gott, zu dem er täglich betete.
Kapitel 8
Es ist eine Vision aus dem dritten Jahr Belsazars. Gott zeigt dem Propheten den Widder und den zottigen Ziegenbock. Daniel lernt, dass nun als nächstes das Reich der Meder und Perser kommen wird, gefolgt von dem Reich der Griechen. Das Brennglas Gottes wird also gewissermaßen etwas genauer eingestellt, um Daniel zu zeigen, an welcher Stelle des gesamten Ablaufes er selbst steht. Gott führt seinen Propheten Schritt für Schritt in die Realität seines gewaltigen Planes ein.
Kapitel 5
In Kapitel 5 steht Daniel dem König Belsazar in der letzten Nacht von dessen Leben gegenüber. Er weiß, dass es mit Babylon zu Ende geht, so wie er es Nebukadnezar Jahrzehnte zuvor geweissagt hat. Belsazar kennt den Propheten überhaupt nicht, denn er muss Daniel zuerst einmal nach seinem Namen fragen, als er ihm gegenübersteht. Dieser König hat wohl nur von Tag zu Tag gelebt, ohne ein Bewusstsein von der wirklichen Geschichte seines eigenen Reiches zu haben. Er erinnert uns an die scheinbar kopflosen Weltpolitiker unserer Tage, welche sich aber dennoch selbst für so bedeutend halten, dass sie sich stark genug fühlen, Pläne ohne Gott zu machen. Auch in unserer Zeit stehen die Propheten Gottes diesen Herrschern gegenüber und haben ihnen das Wort Gottes zu verkündigen, was bisweilen zu schweren Konsequenzen für die Verkündiger führen kann. Daniel hat diesem unbedeutenden Vasallen nicht mehr viel zu sagen. Das Reich der Babylonier geht in derselben Nacht unter. Das Reich der Meder und Perser beginnt in derselben Nacht.
Der Prophet hat nun erlebt, dass er unter der Führung Gottes in das Perserreich eintreten durfte. Er weiß, dass Kyros im Osten herrscht, er selbst steht jedoch zunächst noch unter der Herrschaft des Meders Darius. Er hat die Schriften von Jesaja und Jeremia studiert und weiß, dass das Ende der babylonischen Gefangenschaft Israels unmittelbar bevorsteht. Er hofft im Inneren seines Herzens darauf, unter der Führung seines Gottes trotz seines hohen Alters noch eine Begegnung mit Kyros erleben zu dürfen, aber Gott lässt ihn in diesem Punkt zunächst noch im Dunkeln. Die jüdische Tradition redet davon, dass Daniel in der Tat noch eine Begegnung mit Kyros hatte.
Die nächste Vision kommt im neunten Kapitel. Mit dieser Vision entschädigt der Herr seinen alten Propheten für das lange Warten von 70 Jahren im Dienst der Babylonier, indem er ihn das Kommen des Messias Israels und des Erlösers der Welt sehen lässt. Der Prophet bekommt gewaltige, erstaunliche und erschreckende Dinge zu sehen.
Kapitel 9
Kurze Zeit nach dem Untergang Babylons steht Daniel dem König Darius persönlich gegenüber und weiß, dass im Osten des Perserreiches bereits Kyros an der Macht ist, welchen ihm Gott durch das Studium des Buches Jesaja als denjenigen vorgestellt hat, der die Gefangenschaft des Volkes beenden und den Wiederaufbau der Stadt Jerusalem und des Tempels befehlen wird. Aus dem Buch Jeremia weiß Daniel darüber hinaus, dass die 70 Jahre der Gefangenschaft vor ihrem unmittelbaren Ende stehen. Bei ihm läuten alle Sirenen. Es ist soweit! Die große Frage lautet für Daniel: Werde ich den Erlass noch erleben?
Kapitel 9 bringt die herrliche Vision aus dem ersten Jahr des Darius. Die Vision geht vom Erlass zum Bau der Stadt und des Tempels durch Kyros (den Daniel kannte und innerhalb von etwas mehr als einem Jahr erwartete) bis zum Kommen und zur Ermordung des Messias Israels nach vierhundertsechsundachtzigeinhalb Jahren, und danach bis zur letzten und endgültigen Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. Sie überspannt die gesamte Zeit der „letzten Tage“ der Nation Israels, der zweiten Phase der Existenz der auserwählten Nation des alten Bundes im Land. Daniel sieht nicht nur die Rückkehr ins Land siebzig Jahre nach der Vertreibung infolge der Übertretung Israels. Er sieht auch, dass gegen Ende von siebzig Mal sieben Jahren eine noch viel gewaltigere Übertretung stattfinden wird, welche im Untergang der Nation enden wird. Er lernt nun endlich, wer der Stein aus Kapitel 2 und der Sohn des Menschen aus Kapitel 7 sind: Sie sind beide dieselbe Person, nämlich der Messias, der Fürst, welcher umgebracht werden und zugleich eine ewige Gerechtigkeit und eine ewige Vergebung der Sünden bewirken wird. Daniel ist zutiefst niedergeschlagen und trauert lange Zeit. Er wartet auf Kyros und hofft, dass Gott es ihm schenken möge, diesem Herrscher zu begegnen, wissend, dass er zusammen mit diesem König an der großen Wasserscheide der Geschichte Israels steht. Hier noch einmal der Wortlaut der Vision, danach die Deutung:
Dan 9,24-27: „Über dein Volk (Daniels Volk, also Israel) und deine Stadt sind 70 Wochen bestimmt, um der Übertretung ein Ende zu machen und die Sünden abzutun, um die Missetat zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit herbeizuführen, um Gesicht und Weissagungen zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben. So wisse und verstehe: Vom Erlass des Befehls zur Wiederherstellung und zum Aufbau Jerusalems bis zu dem Messias dem Fürsten, vergehen 7 Wochen und 62 Wochen (shavuot = „Siebener“. Im Textzusammenhang ist die Rede von Jahren, also hier: 7 mal 7 Jahre und 62 mal 7 Jahre); Straßen und Gräben werden gebaut, und zwar in bedrängter Zeit. Und nach den 62 Wochen wird der Messias ausgerottet werden, und ihm wird nichts zuteilwerden (andere Übersetzungen: „und er wird nichts haben“); die Stadt aber samt dem Heiligtum wird das Volk des zukünftigen Fürsten zerstören, und sie geht unter in der überströmenden Flut; und bis ans Ende wird es Krieg geben, fest beschlossene Verwüstungen. Und er wird mit Vielen den Bund bestätigen eine Woche lang; und in der Mitte der Woche wird er Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen, und wegen der überströmenden Gräuel wird er es (das Heiligtum) verwüsten, und zwar bis zur Zerstörung, und das Beschlossene wird über das Verwüstete ausgegossen werden.“
Und nun zu einer kurzgefassten Deutung:
Wenn wir das neunte Kapitel in seiner Ganzheit betrachten, dann zeigt es in seinem Aufbau eine eindeutige Bundesstruktur. Daniel redet in seinem Gebet zu Gott wiederholt über den Bund mit Mose und über das Gesetz, welches das Volk immer wieder gebrochen hat, bis schließlich das Gericht der Vertreibung kommen musste. Es besteht hier eine unmittelbare Verbindung zu 3Mo 25, wo die Struktur von Sabbatjahren und Jubeljahren für das Land Israel eindeutig festgelegt ist. Daniel 9 ist in 3Mo 25 fest verankert, die beiden Kapitel sind inhaltlich nicht voneinander zu trennen.
Das Land Israel hat nach dem Wort Gottes durch Jeremia (welches Daniel natürlich kannte: Jer 25,10-12; Jer 29,10) während der Gefangenschaft des Volkes siebzig Sabbatjahre genossen. Jedes dieser Sabbatjahre repräsentiert für sich selbst wiederum eine Zeit von sieben Jahren. Somit repräsentieren die siebzig Jahre der Vertreibung einen Zeitraum von insgesamt sieben mal siebzig Jahren, das sind vierhundertneunzig Jahre. Der Engel Gabriel kommt nun zu Daniel und bringt ihm von Gott die Worte einer neuen Vereinbarung mit einer klaren und festen Zusage. Diese Vereinbarung beinhaltet wieder siebenmal siebzig Jahre, diesmal wirkliche vierhundertneunzig Jahre um alles zu erfüllen, was die Prophetie sagt. Somit steht Daniel – zusammen mit Kyros, dem er bald begegnen wird – nach Gottes Gedanken exakt auf der Wasserscheide zwischen den vergangenen siebzig Sabbaten und den kommenden siebzig Sabbaten. So wie einerseits die vergangenen siebzig Sabbate mit der Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft geendet haben, so werden andererseits die kommenden siebzig Sabbate mit dem Kommen des Messias Israels und der Aufrichtung seiner ewigen Gerechtigkeit und seines ewigen Reiches enden. Genau wie die vergangenen siebzig Sabbate ohne Unterbrechung vergangen sind, so werden auch die kommenden siebzig Jahrsabbate ohne Unterbrechung ablaufen, bis das Ende erreicht ist.
Somit ist der Gesamtkontext des 9. Kapitels ausnahmslos messianisch, und er ist unmittelbar aus der Struktur der Jahrsabbate in 3Mo 25 abgeleitet. In gleicher Weise bezieht sich auch der Kontext der Prophetie ab Vers 24 auf den Messias, den Fürsten. Insbesondere redet Vers 27 über den Messias, und nicht über eine andere Person. Jede andere Lesart würde nicht nur dem einfachen und klaren Sinn des Verses grundlegend widersprechen, sondern auch den Sinn der gesamten Prophetie zerstören. Viele Ausleger der Heiligen Schrift haben in ihren Kommentaren diesen klaren Zusammenhang betont.
Es handelt sich um eine trotz ihrer Kürze sehr inhaltsreiche Prophetie. Sie wurde nach Ansicht vieler Christen (und auch nach meiner bescheidenen Ansicht) in dem Herrn Jesus Christus vollständig erfüllt. Wir haben uns deshalb nicht zu fragen, wie die Prophetie in der Zukunft noch erfüllt werden wird, sondern vielmehr auf welche Weise sie sich in dem Leben und Dienst unseres Herrn auf dieser Erde erfüllt hat. Die Geschichte bestätigt die Prophetie.
Dazu kommt, dass Gott seine Propheten nicht dadurch legitimiert, dass die Erfüllung ihrer Vorhersagen auf unbestimmte Zeit hin vertagt wird. Siehe hierzu 5Mo 18,21-22: Prophetie muss in einem überschaubaren und nachvollziehbaren Zeitrahmen erfüllt werden, sonst wird sie nicht anerkannt. Daniel hatte eine ganz konkrete Prophetie ausgesprochen, welche einen ganz exakten Zeitrahmen bis zum Kommen des Messias und bis zu seiner Kreuzigung anzeigte. Der Herr Jesus sagte zu seinen Jüngern in Matt 24, dass die Generation ihrer Zeit den Gräuel der Verwüstung, von dem Daniel redete, sehen würde. Wenn sich das nicht erfüllt hätte, dann hätte der Herr sich entweder getäuscht oder die Unwahrheit gesagt. Beides ist völlig undenkbar. Der Herr hat durch seine Aussagen vielmehr den Propheten Daniel legitimiert, indem er den Jüngern klar machte, dass die Erfüllung der Prophetie auf ihn selbst und somit zugleich auf die Zeit der Jünger ging. Die Erfüllung aller 70 Jahrwochen, also aller 490 Jahre, welche Daniel vorhergesagt hatte, würde sich in der Zeit der Jünger ereignen.
Die Bibel redet wie bereits gesagt an keiner Stelle von einer Unterbrechung der 70 Jahrwochen. Kein Bibelvers sagt aus, dass Gott die 70. Jahrwoche verschoben hat. Gott hatte nicht die Absicht, den alles entscheidenden Zeitpunkt der Ankunft des Messias Israels kompliziert zu verschlüsseln. Die Wahrheit der Schrift war für Israel damals und ist für uns heute einfach und klar gehalten. Die 70 Jahrwochen bilden ebenso eine Einheit wie die 70 Jahre der babylonischen Gefangenschaft zur Zeit Daniels. Auch damals gab es keine Unterbrechung. Am Ende der 490 Jahre, gerechnet von ihrem Beginn an, würde alles erfüllt sein: „70 Wochen sind über dich und dein Volk bestimmt. (englisch: determined = zur völligen Ausführung zuverlässig bestimmt)“ Weiterhin findet man in der Bibel an keiner Stelle Aussagen über eine prophetische Uhr Gottes. Was könnte das für eine Uhr sein, die für 2000 Jahre stehen bleiben muss, weil eine kleine Gruppe feindlicher Pharisäer dem Ratschluss Gottes getrotzt hat und sie durch ihre Aktionen angehalten hat? Dieser Gedanke ist nicht schriftgemäß, denn er lässt sich nicht anhand klarer Schriftstellen belegen. Daher möchten wir nun der Frage nachgehen, wie sich die Prophetie Daniels in der Vergangenheit in dem Werk des Herrn Jesus Christus erfüllt hat. Wir möchten hierzu alle Aspekte einzeln in Kurzform betrachten.
Die Erfüllung der Vision
Der Startpunkt der 70 Wochen: Der Erlass des Befehls zum Wiederaufbau Jerusalems. Diesen Erlass finden wir in Jesaja 44,28, und er wurde durch den Perserkönig Kyros gegeben. Nach den besten Chronologien geschah dies im Jahr 457/456 v.Chr. nach unserer Zeitrechnung (ich empfehle hierzu insbesondere die ausgezeichnete Chronologie des Dispensationalisten David Lipscomb Cooper: „Messiah: His First Coming Scheduled“, welche von Adam bis auf den Messias geht und im Internet frei zugänglich ist, außerdem die Chronologien von Philipp Mauro und Martin Anstey). Die Zeitangabe 538 v.Chr. nach der ptolemäischen Zeitrechnung ist aufgrund der fehlerhaften ptolemäischen Chronologie und der falschen Abfolge der genannten Könige des Perserreiches bei Ptolemäus nicht zuverlässig. Insbesondere bei Dr. Cooper findet sich eine sehr gute Chronologie des Perserreiches, welche auch die Bücher Esra und Nehemia auf eine zuverlässige biblisch-chronologische Grundlage stellt.
Innerhalb von 49 Jahren wurden die Stadt und der Tempel wieder aufgebaut. Wir finden diese Ereignisse in den Büchern Esra und Nehemia. Die Prophetie wurde erfüllt. Die darauf folgenden 62 Jahrwochen, also die nächsten 434 Jahre, waren lediglich eine Übergangsphase bis zum Kommen des Gesalbten, des Messias, des Fürsten. Die Summe beider Jahreszahlen ist 483 Jahre. Wenn wir diese vom Jahr 457 v.Chr. an berechnen, dann bringt unsere Berechnung uns in das Jahr 26/27 n.Chr. Wichtig ist in unserem Zusammenhang auch die Tatsache, dass der römische Kaiser Tiberius während der ersten beiden Jahre seiner Herrschaft noch als Co-Caesar zusammen mit Augustus regierte. Augustus regierte bis 14 n.Chr. Das 15. Jahr des Tiberius muss somit nicht ab dem Jahr 14 n.Chr. berechnet werden, sondern ab dem Jahr 12 n.Chr. Dies bringt uns wiederum exakt in das Jahr 26/27 n.Chr. Der Herr begann seinen öffentlichen Dienst in genau diesem Jahr dadurch, dass er im Jordan getauft wurde. Als er aus dem Wasser heraufstieg, wurde er vom Vater im Himmel öffentlich mit dem Heiligen Geist gesalbt. Ab diesem Augenblick war er in der Öffentlichkeit Israels der Gesalbte Gottes, der Messias. „Bis auf den Messias, den Fürsten, sind 7 Wochen und 62 Wochen.“ Die Prophetie Daniels wurde exakt erfüllt.
Der Dienst des Herrn dauerte nach Übereinkunft unter nahezu allen Christen dreieinhalb Jahre. Diese Zeit war die erste Hälfte der 70. Jahrwoche Daniels. Im Jahr 30 wurde der Herr am Passahfest der Juden als das wahre Passahlamm Gottes vor den Toren der Stadt Jerusalem gekreuzigt. „Nach den 62 Wochen (nämlich dreieinhalb Jahre danach, in der Mitte der 70. Woche) wird der Messias ausgerottet werden und nichts haben.“ Es geschah so. „Und zur Mitte der Woche wird er die Speisopfer und Schlachtopfer aufhören lassen.“ Der Tod des Messias, des wahren Passahlammes, war aus der Sicht Gottes das Ende aller Opfer des alten Bundes. Sie hatten von diesem Zeitpunkt an keine Gültigkeit mehr in den Augen Gottes und waren nur noch Gräuel. Die Juden hatten durch die Verurteilung und Überlieferung ihres Messias ihre Übertretung endgültig zum Abschluss gebracht. Die Ermordung des Messias durch Menschen ist und bleibt das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Das Volk des alten Bundes hatte damit seine Auserwählung endgültig verspielt.
Zu gleicher Zeit bestätigte der Herr Jesus Christus durch seinen Tod und sein Blut den neuen und ewigen Bund mit allen Menschen, die an ihn glauben würden. Das sind die „Vielen“ aus Daniel 9. In seinem Tod und in seiner Auferstehung hat der Herr die Sünden abgetan, die Missetat gesühnt und eine ewige Gerechtigkeit eingeführt, nämlich die Gerechtigkeit Christi vor Gott, welche allen Gläubigen zugerechnet wird. Am Pfingsttag in Jerusalem sehen wir dann, wie das Allerheiligste des neuen Bundes, nämlich die Gemeinde Christi, der Tempel des neuen und ewigen Bundes, durch das Kommen des Heiligen Geistes gesalbt wurde: „…und um ein Allerheiligstes zu salben.“ Auch dies wurde also erfüllt. Das zeitliche Ende der 70. Jahrwoche Daniels finden wir in etwa in Apg 10, wo Petrus ungefähr im Jahr 33/34 n.Chr. das Evangelium endgültig zu den Nationen bringt. Wir kennen die Geschichte von Kornelius und seinem Haus. Das genaue historische Datum ist nicht allzu wichtig.
Für das alte Israel als Nation blieb nur noch das Ende übrig. Für 40 Jahre, nämlich bis zum Jahr 70 n.Chr., führten sie ihren in den Augen Gottes zum Gräuel gewordenen Opferdienst im Tempel aus. Nach der Tradition der Rabbiner fiel das Los für den Sündenbock am großen Versöhnungstag 40 Mal hintereinander nicht in die rechte Hand des Hohepriesters. Gott erkannte den Dienst nicht mehr an. Aus Gottes Sicht war das Ganze nur noch ein Überströmen von Gräueln. Wegen dieser überströmenden Gräuel, von denen Daniel geredet hatte, kam schließlich im Jahr 70 n.Chr. die Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem durch den kommenden Fürsten, nämlich durch den römischen Fürsten und späteren Kaiser Titus.
Bereits im Jahr 67/68 hatte die Belagerung begonnen. Die Christen in Israel sahen zu diesem Zeitpunkt den Gräuel der Verwüstung, nämlich das Heer des Titus und die römischen Feldzeichen, vor welchen sich die Römer in Anbetung ihres Kaisers und ihrer Götzen niederbeugten, in Judäa und in der Umgebung von Jerusalem stehen. Sie erinnerten sich an die Weissagung des Herrn, welche ihnen von den Aposteln mitgeteilt worden war und flohen aus der Stadt, als Vespasian nach Rom reisen musste, um sich dort nach dem Tod Neros im Jahr 68 gegen dessen mögliche Nachfolger durchzusetzen und zum Kaiser krönen zu lassen. Kurz darauf kehrte sein Sohn und späterer Nachfolger Titus zurück und vollendete sein Werk. Mehr als eine Million Juden fanden in Jerusalem den Tod. Soweit wir es aber wissen, kam kein messianischer Jude ums Leben. Die fürchterliche Zeit der Zerstörung endete im Jahr 72/73 n.Chr. Sie stellt nach Ansicht vieler christlicher Lehrer die Zeit der vom Herrn prophezeiten großen Drangsal Jakobs dar. Somit kann gesagt werden, dass die Vision tatsächlich in dem Werk des Herrn und in der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n.Chr. vollständig erfüllt ist. Zeitlich sehr nah zu der Vision kommt auch das Ereignis von Kapitel 6.
Kapitel 6
In Kapitel 6 wird Daniel nämlich von Darius in die Löwengrube gesteckt. Geistlich gesehen unternimmt der Satan einen letzten Versuch, die Begegnung Daniels mit Kyros zu verhindern. Kurz darauf ist auch Darius tot, und Kyros kommt an die Macht. Daniel kennt ihn, denn er hat bereits im ersten Jahre des Darius die Vision von Kapitel 9 erhalten. Gottes allmächtige Hand hat den uralten Propheten durch ein Wunder in der Löwengrube bewahrt. Daniel steht Kyros gegenüber und konfrontiert ihn mit den Aussagen der Propheten Jesaja (Jes 44,28) und Jeremia (Kapitel 25 und 29). Kyros wird dadurch herausgefordert, den Erlass zum Wiederaufbau herauszugeben, wie er es auch in Es 1,2-5 selbst sagt. Kyros weiß sich von Gott selbst beauftragt und gefordert. Die Begegnung Daniels mit Kyros ist jedoch noch immer nicht das Ende seines Lebens, und auch nicht seiner Prophetentätigkeit. Gott überschüttet seinen uralten Diener mit Gnade und lässt ihn eine letzte gewaltige Vision sehen, welche über das Ende Israels im alten Bund hinaus bis an das Ende des jetzigen Zeitalters reicht!
Daniels letzte Vision
Sie kommt im dritten Jahr des Kyros, bereits nach dem Erlass zum Wiederaufbau der Stadt und des Tempels. Daniel weiß, wo es alles nach 490 Jahren hinführen wird. Aber Gott lässt den Propheten nicht im Ungewissen über die Geschehnisse während dieser letzten Tage Israels, also während der zweiten Periode Israels als Nation im verheißenen Land. Die letzte Vision Daniels überspannt die Kapitel 10-12 seines Buches. Gott zeigt seinem Diener nicht nur, was sich während der kommenden 490 Jahre bis zum Messias und dem Beginn seines Reiches im Land ereignen wird, sondern er lässt ihn auch das Ende der Nation des alten Bundes im Jahr 70 n.Chr. sehen. Aber damit immer noch nicht genug. Daniel darf sogar einen schemenhaften Blick in das Evangeliumszeitalter werfen, welches schließlich in die Auferstehung aller Menschen zum letzten Gericht bei der Wiederkunft des Herrn einmündet.
Kapitel 10
Kapitel 10 redet über die Lenkung der Nationen durch mächtige Engel im unsichtbaren Bereich und nennt den Engel Michael als den Engel des Volkes Gottes. Kapitel 10 redet auch über den Engel Persiens, nach dem der Engel Griechenlands folgen würde. Daniel erfährt hier, dass die äußeren Ereignisse in der Welt nur der sichtbare Ausdruck eines geistlichen Kampfes im unsichtbaren Bereich sind. Die Engel Gottes kämpfen gegen die Engel des Bösen, also gegen die dämonischen Mächte. Die menschlichen Herrscher sind nur die Marionetten in dem großen Spiel, welches aus dem unsichtbaren Bereich heraus gelenkt wird. Daniel erfährt hier genau das, was auch die Christen im zweiten Psalm und im Buch der Offenbarung erfahren. Gott hat alles im Griff und lenkt es zu seinem Ziel, und zwar auch dann, wenn es äußerlich nicht den Anschein hat. Daniel wurde durch dieses Wissen genauso getröstet wie wir als Christen in unserer Zeit.
Kapitel 11
Kapitel 11 bringt dem Propheten und auch uns einen detailgetreuen Überblick über die Ereignisse im weiteren Perserreich und im darauf folgenden griechischen Reich, außerdem eine Sicht auf die Ereignisse des Makkabäerreiches bis zu seinem Ende. Die Historiker haben die geschilderten Ereignisse bis in die Einzelheiten erforscht und die atemberaubende Genauigkeit dieser Prophetie dokumentiert. Kapitel 11, Vers 1-4 redet über die Zeit von Kyros bis auf Xerxes, der von Alexander dem Großen besiegt wurde. Die Verse 3-4 reden insbesondere über Alexander. Kapitel 11, Vers 5-19 redet über die Nachfolger des Alexander, unter denen das Reich in vier Teile zerfiel, sowie über die damit verbundenen Kriege. Kapitel 11,20 redet über den Erheber der Steuern, eine nicht ganz klare historische Gestalt. Am ehesten war es wohl der Sohn von Antiochus dem Großen. Die Verse 21-35 reden über den schrecklichen Antiochus Epiphanes, der mit den Makkabäern im Kampf stand und schließlich von ihnen niedergerungen wurde. Vers 35 redet über den Tod der letzten Makkabäer. „Bis zum Ende“ bedeutet hier natürlich: „bis zum Ende der Makkabäerzeit“. Kontext!
Am Ende des 11. Kapitels steht in den Versen 36-39 und 44-45 der König, welcher bereits in der Vision in Kapitel 8,23-25 angekündigt wurde: Der König Herodes, wie wir noch sehen werden. In den Versen 40-43 redet die Prophetie über die Schlacht bei Actium im Jahre 31/30 v.Chr. zwischen Augustus auf der einen Seite und Antonius mit Cloeopatra auf der anderen Seite. Augustus siegte und wurde der erste Kaiser Roms. Herodes war mit allen Beteiligten unmittelbar konfrontiert, und die Verbindung der Verse in Kapitel 11 ist der Beweis dafür. Auch das werden wir gleich noch sehen. Unter Augustus wurde der Herr Jesus Christus, der Stein aus Kapitel 2, der Sohn des Menschen aus Kapitel 7 und der Messias aus Kapitel 9, in den letzten Tagen der Herrschaft des Herodes in Bethlehem geboren. Sehr bemerkenswert ist hierbei auch die Tatsache, dass das Kommen des Messias sowohl bei Daniel als auch bei Maria durch genau denselben Boten Gottes angekündigt wurde, nämlich durch den Engel Gabriel. Dies ist ein weiteres starkes Argument für den messianischen Charakter der Prophetie von Daniel 9.
Im Licht der bekannten historischen Ereignisse ist es nicht allzu schwierig, Herodes klar zu identifizieren; zu deutlich sind die Übereinstimmungen. Die Ausleger unserer Zeit vertreten zum Teil die Auffassung, dass die Erzählung von Kapitel 11 bei Vers 35 abbricht, und dass der König von Vers 36 noch immer zukünftig ist. Er wird mit dem Antichristen gleichgesetzt, obwohl der Text nicht den leisesten Hinweis auf eine Unterbrechung und auch nicht auf einen Antichristen gibt. Im Gegenteil: Vers 36 ist durch die Präposition „und“ direkt mit Vers 35 verbunden. Das, was im Rest des Kapitels gesagt wird, liegt fest eingebettet in den Erzählfluss des gesamten Kapitels. Kapitel 11 bringt uns, wie wir bereits gesehen haben, von Persien über Griechenland nach Rom, und zwar ohne Unterbrechung. Der ununterbrochene Fortgang der Erzählung des 11. Kapitels ruht auf mehreren Säulen.
Erstens: Die Prophetie ist in Form einer in sich selbst logisch abgeschlossenen und fortlaufenden Erzählung gegeben, und alle ihre Teile stellen eine lückenlos rekonstruierbare historische Reihenfolge von Ereignissen dar. Das gilt bis zum letzten Vers.
Zweitens: Das Thema der Prophetie sind ausdrücklich die Ereignisse „der letzten Tage“ der Geschichte Israels. Diese Zeit reichte, wie wir ebenfalls bereits gesehen haben, vom Edikt des Kyros bis zur Zerstörung im Jahr 70, welche im Kapitel 12 beschrieben wird. Das 11. Kapitel ist somit auch als ein Mittelstück in den gesamten Fortgang von Kapitel 10-12 eingebettet. Es gibt hier keine Unterbrechung. Das willkürliche Heraustrennen eines Teiles der Aussagen würde die Prophetie als Ganzes zerstören.
Drittens: In Vers 40 ist die Rede von den Kindern Edom, Moab und Ammon, welche damals noch als Staaten existierten, und welche im Streit zwischen Syrien und Ägypten bis zur Schlacht von Actium im Jahr 30 v.Chr. bemerkenswerterweise nicht betroffen waren. Die Aussagen von Daniel 11 sagen genau diesen Sachverhalt voraus.
Viertens: Die Prophetie geht bis Kapitel 12,7. Daniel fragt dann den Engel, wann alle diese wunderbaren Dinge vollendet sein würden, von denen der Engel geredet hat. Die Antwort in 12,7 lautet: Wenn die Kraft des heiligen Volkes zerschmettert sein wird, wird alles vollendet sein. Die Prophetie reicht somit klar und eindeutig bis zum Untergang Jerusalems im Jahr 70 n.Chr. Die Ereignisse von Kapitel 11 spielen sich demnach eindeutig vor dieser Zeit ab.
Fünftens: Vers 35 reicht bis zum Ende der Makkabäerzeit. Der König in Vers 36 kam somit nach den Makkabäern. Es kann nicht Antiochus Epiphanes sein, welcher ja gerade von den Makkabäern besiegt wurde. Ebenso kann es nicht der Mensch der Sünde aus 2Thess 2,3-10 sein, welchem ganz andere Charaktermerkmale zugesprochen werden.
Wer ist es nun? Es gab in der Zeit von der Rückkehr aus Babylon bis zum Kommen des Herrn nur einen einzigen König über das Volk Israel, nämlich Herodes den Großen. Nicht nur in Dan 11,36, sondern auch im Matthäusevangelium wird er „der König“ genannt. Das Makkabäerreich kommt in Vers 35 an sein Ende und wird sowohl im Text ab Vers 36 als auch historisch in der Realität gefolgt von dem König, den Vers 36 beschreibt. Es passt exakt. Herodes war zwar ein Idumäer, aber er war von den Römern als König über Daniels Volk Israel eingesetzt. Herodes und seine Dynastie blieben bis zum Untergang Jerusalems bestehen, also bis der Zorn vorüber war. Genau so sagt es Vers 36.
Der König würde tun nach seinem Willen. Das bedeutet nicht, dass er ein eigensinniger und schwer erziehbarer Mensch gewesen ist. Das war er zwar, aber unzählige andere waren und sind das bis heute ebenso. Es bedeutet vielmehr, dass er mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln seinen Willen erfolgreich durchsetzen würde. Genau das hat Herodes bis zu seinem Tod mit äußerster Brutalität und Gewissenlosigkeit getan. Er war ein Meister der Machtergreifung und der Machterhaltung. Zu diesem Zweck ließ er sogar seine Frau Mariamne und drei seiner Söhne ermorden, um vermeintliche Konkurrenz auszuschalten.
Der König würde großtun und sich über alles und über jeden Gott erheben. Herodes erzwang die Herrschaft über das Volk, über die Priester und über den Tempeldienst. Er ließ den Tempel nach seinen Vorstellungen ausbauen, was viele Todesopfer forderte. Er ließ sogar für eine Zeit ein Götzenbild dort aufstellen. Er selbst ernannte alle Amtsträger in seinem Reich, und zwar nur solche, die ihm ergeben waren. Alle Konkurrenten wurden ohne Zögern ermordet. Deshalb glaubte er auch in Mt 2, dass der König Israels, der Messias, gekommen sei, um ihm seinen Thron wegzunehmen.
Der König würde sich nicht um den Gott seiner Väter und nicht um die Sehnsucht der Frauen kümmern. Er wurde im Land Israel als Jude betrachtet, und die Herodianer hielten ihn sogar für den Messias. Herodes führte jedoch die Anbetung des römischen Kaisers ein und verachtete somit den Gott Israels. Jede Frau in Israel hatte den Wunschtraum, Mutter zu werden, denn Kinderlosigkeit galt als Schande. Einige hofften sogar, einmal die Mutter des Messias zu werden. Das war die Sehnsucht der Frauen in Israel. Herodes missachtete sie völlig als er versuchte, den Messias zu ermorden und dabei viele andere Kinder ermordete.
Der König würde den Gott der Festungen verehren mit Gold, Silber und Edelsteinen. Der Gott der Festungen war der römische Kaiser, der sich als Gott verehren ließ und Festungen im ganzen Land baute. Zu seinem eigenen Machterhalt ehrte Herodes sowohl Julius Caesar, als auch Antonius, als auch Augustus Caesar. Er tat dies, indem er ihnen einerseits prächtige Geschenke machte, und indem er andererseits Festungen im Land zu ihrer Ehre erbaute. Beispiele: Der Seehafen Caesarea zu Ehren Caesars, die Festung Sebaste zu Ehren des Augustus, die Burg Antonia als Festung der Römer im Tempelbezirk, viele weitere Festungsbauten im Land. Außerdem Kaiserstatuen im ganzen Land, ja sogar im Tempelbezirk. Bis soweit Vers 39.
Dann kommt ein Einschub, nämlich die Verse 11,40-43. Es wird hier über die Zeit des Endes gesprochen. Die Bedeutung dieser Redewendung muss aus dem Kontext abgeleitet werden, und der Kontext redet über Herodes und seine Dynastie. Er hat mit dem Ende unseres Zeitalters nichts zu tun. Die Zeit des Endes in unserem Kapitel ist also die Zeit des Endes des Herodes und seiner Dynastie. Es ist die Zeit des Endes der zweiten Phase der nationalen Existenz Israels. Die Aussagen der Verse 40-43 sind durch historische Ereignisse exakt erfüllt. Sie liegen nicht in der fernen Zukunft, sondern in der Zeit des Herodes. In Plutarchs „Leben des Marcus Antonius“ finden sich die entsprechenden Informationen. Es geht um die Schlacht bei Actium und die damit verbundenen Ereignisse.
Antonius rückte mit Unterstützung des Herodes (daher auch die Einbettung der Verse 40-43 in die Prophetie über Herodes, welche in Vers 44 wieder aufgenommen wird; Herodes war an allen diesen Dingen beteiligt) und auf Geheiß von Kleopatra gegen Athen vor, und Augustus war eigentlich nicht darauf vorbereitet. Auch Bocchus von Africa, Ptolemäus von Pontus und einige andere waren neben Herodes mit dabei. Ein König des Südens stieß also zuerst vor, so wie es Vers 40 sagt. Der Senat erklärte Kleopatra den Krieg und ignorierte Antonius. So war es also zwischen einem König des Südens (Ägypten, Libyen, Äthiopien) und einem König des Nordens (Rom). Obwohl Antonius zu Lande weit überlegen war, entschloss er sich auf Geheiß Kleopatras zu dem Fehler, auf See anzugreifen. Die Seeschlacht bei Actium verlor er gegen Augustus, welcher mit vielen Schiffen gegen ihn heranstürmte. Immer noch Vers 40.
Augustus setzte sich nun auch zu Lande in Marsch und zog nach Israel hinein (in das Land der Zierde), nachdem Antonius von seinem Landheer verlassen worden war, danach weiter nach Ägypten und Afrika, aber auch nach Vorderasien. Herodes schlug sich in einer kompletten diplomatischen Kehrtwendung auf die Seite des Augustus. Ägypten wurde von den Römern gedemütigt und seiner Reichtümer beraubt: Vers 43. Der Feldherr des Augustus, Cornelius Balbus, zog weiter nach Libyen und Äthiopien und errang in der Folge Ägyptens auch dort den Sieg: Immer noch Vers 43. Dann kehrte er zurück nach Rom und bekam dort von Augustus einen Triumphzug. Alle diese Dinge spielten sich in der exakten Reihenfolge ab, in welcher sie in den Versen 40-43 genannt werden. Sie spielten sich während der Herrschaft des Herodes über Israel ab, und zwar noch lange vor der Geburt des Herrn. Nach dem Machtantritt des Augustus und der äußerlichen Stabilisierung der Machtverhältnisse folgte eine Zeit der „Pax Romana“ für Israel. Die Prophetie Daniels kehrt dann in den Versen 44 und 45 wieder zu Herodes zurück.
„Gerüchte aus dem Osten und aus dem Norden werden ihn erschrecken.“ Hier sehen wir eine klare Übereinstimmung mit Mt 2,1-3. Es kommen die Weisen aus dem Osten, und ihre Nachricht erschreckt den König. In 2,16 erfüllt er durch den Kindermord den Rest des Verses 44 vollständig und unmissverständlich. Auch gegen seine eigenen Söhne ging er in gleicher Weise vor, auch noch am Ende seines Lebens, nur um irgendwie an der Macht zu bleiben.
Vers 45 redet über seinen Palast und sein Ende. Herodes hatte zwei Paläste, einen im Tempelbezirk und einen anderen in der Oberstadt, somit zwischen dem Toten Meer und dem Mittelmeer. In seinen letzten Tagen wurde er von einer schmerzhaften und widerwärtigen Krankheit befallen, von der ihn niemand befreien konnte. Nur fünf Tage, nachdem er die Exekution seines ältesten Sohnes angeordnet hatte, starb er einen verzweifelten und schrecklichen Tod. Ein letzter von ihm noch angeordneter Hinrichtungsbefehl wurde nach seinem Tod nicht mehr ausgeführt.
Dan 11,36-39 und 44-45 sowie Dan 8,24-25 reden klar und deutlich über Herodes. Es ist damit ebenso unzweifelhaft klar, dass es sich bei diesem König nicht um irgendeinen zukünftigen Herrscher handeln kann.
Kapitel 12
Kapitel 12 redet schließlich über die letzten der letzten Tage, als nach der Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn und nach Pfingsten das Evangelium gepredigt wurde. Es endet auf einer Erzählebene mit der Zerstörung Jerusalems und der gleichzeitigen Rettung aller derjenigen, die im Buch eingeschrieben sind, nämlich der Rettung der gläubigen Juden beim Untergang der Stadt. Es greift jedoch auf einer zweiten Ebene noch weit über diese Ereignisse hinaus, indem es sogar über die Verkündigung des Evangeliums während der Zeit des Neuen Testamentes und über Auferstehung aller Menschen am Ende der Zeit redet. Die Verse 1-4 gehören inhaltlich eigentlich zu Kapitel 11. „Zu jener Zeit“ meint nichts anderes als zur Zeit des Endes in Vers 40. Die ganze Weissagung bezieht sich ja auf „die letzten Tage“ Israels im Land. Hier haben wir nun gewissermaßen „die letzten der letzten Tage“. Vier Dinge treten hervor.
Erstens: Michael, der Fürst des Volkes Daniels, steht auf (Off 12,7; Jud 9; Dan 10,13; Dan 10,20-21; 1Thess 4,16). Die genaue Art der Aktivität Michaels wird nicht beschrieben, aber sie diente zur Rettung des Volkes. Hier nun würden diejenigen gerettet, die sich im Buch eingeschrieben finden. 2Mo 32,32. Es waren damals die Gläubigen der Urgemeinde, welche vor der römischen Invasion das Land verließen.
Zweitens: Eine Zeit der Drangsal wie es noch keine gab, seitdem es Völker gibt, bis zu dieser Zeit. Diese Zeit ist identisch mit der Drangsal, die der Herr in seiner Ölbergrede ankündigte (Mt 24,21). Es war historisch die Belagerung Jerusalems, welche in ihrer Schrecklichkeit beispiellos war. Sie wurde durch das plötzliche Fallen des letzten Schutzturmes der Stadt abgekürzt, denn sonst hätte niemand überlebt.
Die Frage Daniels in Vers 6 bezieht sich auf die Dauer der letzten Tage Israels im Land mit ihrer beispiellosen Drangsal und ihrem unerhörten Schrecken. Die Antwort des Engels lautet: „Eine Zeit, zwei Zeiten und eine halbe Zeit; und wenn die Zerschmetterung der Kraft des heiligen Volkes vollendet ist, so wird das alles zu Ende gehen“ (Dan 12,7). Die Zeit würde also etwas mehr als drei Jahre dauern und dann würde alles vollendet sein. Historisch hat sich diese Prophetie in der dreieinhalbjährigen Belagerung Jerusalems bis zum Untergang im Jahr 70 n.Chr. bis in die Einzelheiten erfüllt. Natürlich besteht hier auch eine direkte Verbindung zur Ölbergrede des Herrn in den synoptischen Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas.
Das tägliche Opfer, von dem der Engel in den Versen 11 und 12 redet, war nicht dasselbe wie das, wovon in Kapitel 9,27 die Rede ist. Dort war es der Punkt, an welchem durch das Opfer des Herrn auf Golgatha alle weiteren Opfer im Tempel Jerusalems in den Augen Gottes ungültig wurden. Dennoch führten die Juden den Opferdienst weiter bis zum Ende. Erst in der letzten Phase vor dem Ende der Stadt wurden die Opfer im Tempelbezirk infolge des Belagerungsdrucks der Römer auch tatsächlich praktisch nicht mehr ausgeführt, und davon redet Vers 11.
Die römischen Armeen rückten im November 66 n.Chr. zum ersten Mal hart an die Stadt heran und begannen die Belagerung. Das Ende des Opferdienstes geschah im Monat Juli des Jahres 70 n.Chr. Das sind ziemlich genau dreieinhalb Jahre. Die vom Engel genannten 1290 Tage entsprachen der Zeit vom November 66 n.Chr. bis zum Versagen des Brandopfers im Jahr 70 n.Chr., entsprechend 43 hebräischen Monaten von jeweils 30 Tagen (Philip Mauro, The Seventy Weeks and the Great Tribulation, Kap. X). Der Text im Hebräischen sagt nichts über die Reihenfolge der beiden Ereignisse aus, also entweder: zuerst Belagerung, dann Versagen des Opfers (wie es natürlich in der Praxis auch geschah) oder: zuerst das Versagen des Opfers und dann die Belagerung. Die hebräische Formulierung sagt nur etwas aus über den zeitlichen Abstand der beiden Ereignisse. Dieser hat sich exakt erfüllt.
Dann sagt der Engel noch etwas über 45 weitere Tage, nämlich von der Zeit des Versagens der Opfer bis zum endgültigen Fall der Stadt. Auch dies hat sich erfüllt. Die Juden kämpften auch ohne tägliches Brandopfer noch 45 Tage weiter bis zum Monat September 70 n.Chr. Dann, am 7. Elul der Hebräer, fiel völlig überraschend und ohne klar erkennbaren Grund der letzte Verteidigungsturm der Juden. Titus beendete nach der Einnahme der Stadt die Kampfhandlungen sofort. Die Zeit des Kampfes war also durch Gottes Einwirkung mit dem völlig unerwarteten Einsturz des letzten Turmes der Juden verkürzt worden, genau wie es der Herrn selbst auf dem Ölberg angekündigt hatte. Wenn diese überraschende Verkürzung nicht stattgefunden hätte, dann hätte in der Stadt kein einziger Mensch überlebt. Es wäre kein Fleisch gerettet worden (Philip Mauro, The Seventy Weeks..., Kap. X).
Drittens: Und viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen; die einen zum ewigen Leben, die anderen zur ewigen Schmach und Schande. Hier geht die Prophetie bis zum Ende des jetzigen Zeitalters. Es handelt sich um eine leibliche Auferstehung, und zwar um die Auferstehung am letzten Tag. Dieselbe Auferstehung wird in Joh 5,28-29 und an mehreren anderen Stellen im Alten und Neuen Testament erwähnt.
Viertens: Viele werden umherwandern (Mk 16,20). Das Zeugnis des Evangeliums, verkündigt an allen Orten durch seine Jünger, wird hier prophezeit (Jes 52,7; Rö 10,14-15). Die Erkenntnis von dem wahren Gott nimmt durch den Dienst seiner Zeugen immer mehr zu. Die Menschen kommen aus der Unwissenheit heraus zur Erkenntnis des Herrn (Joh 17,3; Kol 1,10; Apg 17,23-31). Es geht hier zunächst um die Verkündigung der Apostel in der ersten Zeit, bis zum Untergang im Jahr 70 n.Chr. Aber es kann auch bis heute für alle diejenigen gelten, welche das Evangelium verkündigen.
Welch ein Prophet war Daniel! Welche gewaltigen Dinge wurden ihm geoffenbart!